Wer keine Ziele im Leben hat, gilt in unserer Leistungsgesellschaft als antriebslose Couch-Potato, die so vor sich hinlebt. Ohne Antrieb, ohne Sinn. Aber was ist eigentlich so schlecht daran? Müssen wir wirklich immer dem Zwang zur Selbstoptimierung frönen und stetig an uns, unserem Leben, unserer Persönlichkeit, an unserer Karriere, unserem Aussehen und unserer Gesundheit und so weiter und so fort arbeiten? Muss das sein?
„Jeder ist seines Glückes Schmied“
In unserer westlichen kapitalistisch geprägten Gesellschaft ist Antriebslosigkeit verpönt. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft: Von klein auf wird uns eingetrichtert, dass wir nur etwas im Leben erreichen können, wenn wir uns anstrengen, wenn wir fleißig sind und unsere Pflichten erfüllen. Wer noch nie Sätze wie „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Man muss es nur wollen, dann geht das auch“ und anderes Blabla gehört hat, der möge bitte unten einen Kommentar hinterlassen. In den Tag hineinleben, herumsandeln und sich treiben lassen? Abgesehen von ein paar Wochen Urlaub im Jahr ist das keine gesellschaftlich akzeptierte Option.
Todsünde Faulheit
Dies rührt aus unserer Kulturgeschichte. „Acedia“, also Faulheit, ist eine der sieben Todsünden, die das Christentum kennt. In der calvinistischen Arbeitsethik, entstanden im 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Kirchenreformation, gilt derjenige als von Gott auserwählt, der sich durch Fleiß, Anstrengung und ein tugendhaftes Leben Wohlstand erarbeitet. Der Soziologe Max Weber sieht in der calvinistischen Arbeitsethik eine maßgebliche Ursache für den wirtschaftlichen Aufschwung von England und Holland im Zuge der Industrialisierung im 18. Jahrhundert.
Ziele erreichen macht glücklich – oder?
Na gut, dann leben wir eben in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft – so what?! Wir setzen uns Ziele, wir streben danach, sie zu erreichen und uns persönlich weiterzuentwickeln. Das macht uns (scheinbar) glücklich, gibt uns ein Gefühl von Befriedigung und Erfolg.
Das Problem an der Sache: Unsere kollektiv tief verankerten Glaubenssätze von der Leistung, die sich lohnt, und „Ohne-Fleiß-kein-Preis“-Mentalität stimmen schon seit geraumer Zeit nicht mehr mit der Realität überein. Dazu ein paar Daten der OECD (Stand 2018):
- In Deutschland dauert es circa sechs Generationen, bis die Nachkommen einer armen Familie das Durchschnittseinkommen erreicht haben.
- 42 Prozent der Kinder von Geringverdienern werden später selbst ebenfalls Geringverdiener.
- 74 Prozent der Menschen aus den obersten 20 Prozent der Einkommensgruppen verblieben über einen Zeitraum von mindestens vier Jahren in dieser Gruppe.
Von wegen Leistungsgesellschaft. Soziale Herkunft bestimmt zu einem großen Teil unseren wirtschaftlichen Erfolg.
Und was ist eigentlich mit den ebenfalls so hoch gehaltenen Werten der Selbstbestimmung und der Freiheit? Sind wir nicht total verblendet von der Leistungsideologie und dem Zwang zur Selbstoptimierung, dass wir nur noch dem Goldenen Kalb (um in den biblischen Metaphern zu bleiben) hinterherrennen, ohne zu überlegen, was wir selbst eigentlich wollen?
Wozu also brauchen wir Ziele im Leben?
Die Antwort auf diese Frage lautet: Weil wir sonst unzufrieden, unglücklich und schlimmstenfalls sogar psychisch krank werden. Wir brauchen Ziele, um uns selbst zu verwirklichen und um im Leben voran zu kommen. Ziele können wir uns in weit mehr Bereichen stecken als nur in Bezug auf Karriere- und Einkommensstufen. Auch das „Mehr Zeit mit der Familie verbringen“ ist ein Ziel – frei von jeglichem fremdbestimmten Leistungs- und Kapitalismusverdacht.
Der Mensch braucht einen Sinn im Leben
Wie der Psychiater Viktor E. Frankl Mitte des 20. Jahrhunderts in seiner Arbeit mit Depressiven herausfand, braucht jeder Mensch einen Sinn im Leben. Dieser Sinn ist höchst subjektiv. Es kann sich um eine gesellschaftliche Aufgabe handeln, um Hilfe für Bedürftige, um politisches Engagement, die Gründung und Führung eines Unternehmens. Was es ist, ist fast egal, nur Sinn muss es geben.
Denn in Frankls Arbeit stellte sich heraus, dass die Depressionen verschwanden, sobald die Patient:innen eine als sinnvoll empfundene Aufgabe hatten, sobald sie wieder ein Ziel im Leben für sich definiert hatten. Auf dieser Basis entwickelte Frankl seine Logotherapie (von griechisch „logos“ = Sinn).
Ziele ändern sich
Ziele ändern sich dabei immer wieder. Je nach Lebenssituation und Rahmenbedingungen erscheinen uns unterschiedliche Dinge erstrebenswert. Egal wie das Ziel aussieht: Unsere Motivation und Leistungsbereitschaft sind höher, wenn wir ein klares Ziel vor Augen haben, auf das wir hinarbeiten können. Durch die Fokussierung auf ein Ziel konzentrieren wir auch unsere Wahrnehmung auf das, was wir erreichen wollen, und lassen uns weniger leicht ablenken. Ein Ziel, das wir erreichen wollen, hilft uns, auch in kritischen Phasen durchzuhalten.
Wir erreichen mehr im Leben, wenn wir uns Ziele setzen.
Dennoch hat es auch etwas für sich, „in den Tag hineinzuleben“. Denn neben den oben genannten Sinnsprüchen ist auch das Sprichwort „Der Weg ist das Ziel“ zu Recht weit verbreitet. Ohne ein starres Ziel vor Augen gehen wir offener durch die Welt, schlendern mal hierhin, mal dorthin, probieren Neues aus und entdecken so Dinge, von denen wir bislang nichts wussten. Erst durch dieses scheinbar ziellose Herumstreifen erkennen wir, was wir wirklich wollen und können uns dann ein Ziel setzen und dieses Ziel erreichen. Trotzdem: So ganz ziellos geht auch das nicht. Eine grobe Richtung sollte schon vorhanden sein.
Ziele richtig formulieren
Also was jetzt? Sollen wir uns ein Ziel setzen oder nicht?
Die Antwort: Es kommt darauf an. Nämlich darauf, wie das Ziel formuliert ist. Auf den Antrieb, den Dir ein klares Ziel vor Augen gibt, solltest Du nicht verzichten – und dabei trotzdem offen für das bleiben, was es rechts und links des Weges noch zu entdecken gibt. Das gelingt Dir, indem
- Du Dich intensiv mit Deinen Wünschen, Wert- und Sinnvorstellungen auseinandersetzt und Deine Ziele mit diesen in Einklang bringst.
- Du auf das hörst, was DU SELBST wirklich willst und nicht auf das, was andere von Dir erwarten.
- Du Deine Ziele immer wieder auf den Prüfstand stellst.
- Du Dir die Freiheit nimmst, Deine Ziele anzupassen oder zu verwerfen, wenn Du merkst, dass sie nicht mehr zu Dir passen. „Was man anfängt, sollte man auch beenden?“ – Das ist wieder einer der unnützen Glaubenssätze, die es zu überwinden gilt.
Fazit: Ziele sind toll, sie geben Motivation und Orientierung und bringen Dich im Leben voran. Sie sind kein Selbstzweck, nicht einfach ein Punkt auf der To-do-Liste des Lebens, den es abzuhaken gilt. Deine Ziele dienen Dir und Deinem persönlichen Weiterkommen – nicht andersherum.
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